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Leiden und Tragik eines Meisters

Die Großgruppentherapie in Berlin: Illusion und Wirklichkeit -

Josef Rattner zum 75. Geburtstag

Helmut Albrecht

(Der Text kann hier auch als WORD-Datei abgerufen werden)

 

Am 4.April wird der Berliner Psychotherapeut und Wissenschaftsautor Josef Rattner, bekannt durch seine Therapie in großen Gruppen, 75 Jahre alt. In den 70er-Jahren sorgt sein „Arbeitskreis für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie“, den er mit Patienten aus seiner Psychotherapiepraxis und Studenten 1968 in Berlin gründet, für Zulauf und Aufsehen. Bei Veranstaltungen mit mehreren Hundert Personen werden auch intimste Probleme vorgetragen, Ängste, Sinnlosigkeitsgefühle, Sexualprobleme, Erziehungs- und Eheschwierigkeiten.

Aus dem zunächst therapeutischen Anliegen entwickelt sich ein soziales Experiment: eine Lebensform in der Gruppe, die Sport und gemeinsames Lernen und Lesen umfasst. Rattner ist als Autor, Lehrer, Gruppenleiter und Therapeut innerhalb der Großgruppe bewunderter Mittelpunkt, umstrittene Provokation in der Psycho-Szene Berlins. Hunderte werden von den Aktivitäten und der damals einzigartigen Gesprächsform in der Großgruppe angezogen, vor allem Studenten, die Therapie und Studium  im Schwung der nach-68er-Zeit verbinden wollen und eine neue Qualität menschlicher Beziehungen suchen.

Die anhaltende Idealisierung und unkritische Verehrung seiner Person und Lehre wird von Rattner geduldet, später sogar gefördert. In der zukünftigen Entwicklung wird sich zeigen, dass diese Verstrickung wesentlich dazu beiträgt, eine kreative Selbstständigkeit der Großgruppe zu verhindern,  dass der Pionier sein Werk nicht loslassen kann und umgekehrt, die Gruppenmitglieder an der Idealisierung festhalten. Die anfängliche Befreiungsideologie wird sich in konformististisches Gruppenbekenntnis verwandeln. [1] Noch dominiert allerdings der Geist der Pionierzeit und die Faszination des Neuen. Taschenbücher Rattners wie „Der schwierige Mitmensch“ [2] oder „Psychotherapie als Menschlichkeit“ [3] mit Popularisierung der auch sperrigen und Widerstand provozierenden Themen der Psychotherapie und aufklärerischem Impetus erreichen hohe Auflagen. Dabei geht es Rattner besonders um die Ehrenrettung und Weiterentwicklung der Lehre Alfred Adlers, dessen Individualpsychologie er nach der Trennung von dem Kreis um  Sigmund Freud als zu Unrecht verunglimpft und im Schatten einer übermächtigen Psychoanalyse stehend mit einem gewissen Sendungsbewusstsein verteidigt [4] . In der Assimilation philosophischer Konzepte der Phänomenologie Max Schelers, Jean Paul Sartres und Martin Heideggers nähert er sich mit der Kritik an dem reduktionistischen Menschenbild orthodoxer Psychoanalyse der Daseinsanalyse und existentieller Psychotherapie an, ohne aber mit seiner „verstehenden Tiefenpsychologie“ ein eigenständiges Lehrgebäude zu entwickeln [5] . 

Anfänglich wird seine Pionierleistung in der Handhabung der Therapie mit großen Gruppen durch Vertreter der offiziellen Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie anerkannt. Reinhard Brunner charakterisiert im 1985 erschienenen „Wörterbuch der Individualpsychologie“ die Therapieform Rattners als „recht interessante, aber nicht unumstrittene Sonderform“ [6] , Rattners Buch „Gruppentherapie“ von 1973 wird noch diskutiert [7] . In den folgenden Jahren wird Rattner von der Fachwelt immer weniger zur Kenntnis genommen. Seine Bücher verkaufen sich in den achtziger Jahren schleppend, der einstige Bestsellerautor mutiert zum „Alptraum für Buchhändler“, so ein Branchenkenner [8] . In dieser Zeit kündigen Rattner einige seiner glänzendsten Schüler im Streit die Zusammenarbeit, kurze Zeit nachdem gegen anfänglichen Widerstand Rattners das Ausbildungsinstitut gegründet wird. Rattner erkrankt wiederholt, über mehrere Jahre vertreten ihn erfahrene Therapeuten in der Leitung der Großgruppensitzungen, im Streit um die Beteiligung an den Einnahmen kommt es zum Zerwürfnis mit weiteren langjährigen Gefolgstreuen [9] .

Sein Kranksein macht er zu einer Angelegenheit öffentlicher Selbstanalyse in der Zeitschrift der Rattnergruppe „Miteinander leben lernen“ und in dem von ihm edierten „Jahrbuch für Tiefenpsychologie und Kulturanalyse“ [10] . Diese Periodica sind im freien Buchhandel erhältlich, Patienten und Schüler werden damit zu Zeugen des psychosomatischen Krankheitsprozesses ihres Mentors, offiziell von Rattner als lehrreich begründet, aber unter professionellem Gesichtspunkt nicht unproblematisch [11] . Die Großgruppe ist in einer eigentümlichen Situation: in der Psycho-Szene Berlins präsent, in der Mundpropaganda mit dem Vorwurf konfrontiert, sich wie eine Sekte um ihren Guru zu scharen, aber nicht würdig wissenschaftlich untersucht und ernst genommen zu werden. Das begründet eine gewisse Tragik, denn tatsächlich verkörpert Rattners Großgruppe, ein Gemisch aus Lebensgemeinschaft, Therapieform und Ausbildungsinstitut, eine gewisse Alternative zu der verhaltenstherapeutisch und psychoanalytisch dominierten Psychotherapie in Berlin. Vor allzuprimitiver Sektenexistenz wenigstens schützt die weitläufige Auseinandersetzung mit Themen der Philosophie und Kulturkritik, das Opus Magnum Rattners, die „Klassiker der Tiefenpsychologie“, mit mehr als zwanzig Monographien ihrer hervorragendsten Vertreter und einigen der bedeutendsten Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts, gibt eine gewisse Vorstellung davon [12] .

Dennoch macht Rattner eine zunehmend fundamentalistische Doktrin und Idealisierung der Gruppe blind für die Gefahren seiner Methode, wie der Sektenexperte Hans Jörg Hemminger feststellt [13] . Dadurch dass die Gemeinschaft der Therapierten auf Dauer angelegt ist, ergeben sich zahlreiche Manipulations- und Pressionsmöglichkeiten, die das Ideal der herrschaftsfreien Gruppe  oft genug zur Farce machen. Trotz zahlreicher Impulse, die die Großgruppe für Bildung und Persönlichkeitsentwicklung zu geben vermag, kann die Gefahr erheblicher emotionaler Abhängigkeit nicht ausgeschaltet werden. Im Gegenteil wird die Abhängigkeit von ihm als Lehrer und Mentor ausdrücklich programmatisch formuliert: „Für viele Menschen ist es durchaus akzeptabel und sinnvoll lebenslänglich Schüler zu bleiben. Es kommt nur darauf an, dass sie den richtigen Lehrer finden“, schreibt Rattner 1994 und 1996, „hat man einen Lehrer von Rang, ist es gescheiter dauernd in seinem Umkreis zu bleiben.“ [14] .

Der Weizsäcker-Schüler und Emeritus des Lehrstuhls für Neurologie der FU Berlin Dieter Janz konstatiert einen „verheerenden Sog“ der Rattner-Bewegung mit Verwandlung einer psychotherapeutischen Schule in eine Psycho-Sekte [15] . Der Existentialtherapeut Hans W. Cohn,  Schüler des Begründers der Gruppenpsychotherapie S.H. Foulkes, erkennt in Rattners Projekt der Großgruppe den „Weg des charismatischen Schöpfers, der sein eigenes Werk zerstört, weil er sich ihm nicht einordnen kann“, und, paradox genug für einen Gruppenleiter, „unfähig ist, das Mit-Sein des Anderen als existentielle Gegebenheit anzunehmen“ [16] .

1983 bricht Rattner als Lehranalytiker mit der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie, die „IP-Kollegen“ hätten sich um die „Einübung und Festigung von Gemeinschaftsgefühl und Sozialinteresse“ in der Berliner Großgruppentherapie nicht gekümmert, und stattdessen „Vorurteile über unsere Therapiegemeinschaft kolportiert, die sie irgendwo ungeprüft aufgeschnappt hatten.“ „Was sollte ich“, so Rattner,“in einer Therapiegemeinschaft, in der das intellektuelle Kleinbürgertum obenauf war? Ich beschloß auf eigene Faust und Verantwortung Individualpsychologe zu sein, ohne einer Clique, einem Klan oder Klüngel anzugehören.“ [17] . Die Weiterentwicklungen der Psychoanalyse der letzten Jahrzehnte vor allem in der Erforschung schwerer narzisstischer Persönlichkeitsstörungen und des therapeutischen Umgangs mit Aggression und Affekten werden von ihm nicht mehr zur Kenntnis genommen. 1989 enthebt er nach 15 Jahren den Chefredakteur und Lehranalytiker seines Institutes Günther Gödde und die gesamte Redaktion der Zeitschrift „Miteinander  leben lernen“ ihres Amtes und führt seither das sechsmal jährlich erscheinende Blatt in Alleinredaktion weiter als „Zeitschrift für Tiefenpsychologie, Persönlichkeitsbildung und Kulturforschung“, stellt sich in die Tradition von Karl Kraus und seiner „Fackel“, ohne jedoch dessen Witz und satirische Schärfe zu erreichen. Die wiederum breitgefächerten Themen münden vor allem in die Bekräftigung der Gruppenwerte im Gewande humanistischen Bildungsanspruchs, der vielfältige Kanon zahlreicher Kulturrepräsentanten aus Wissenschaft, Philosophie und Dichtung wird als eine Galerie der Vorläufer und Kronzeugen seines Anliegens präsentiert. Konformitätsdruck auf Neulinge und auf Hilfesuchende und eine kritiklose Rezeption der Schriften Rattners in zunehmend verschulten Repetitorien-Sitzungen der Großgruppe höhlen das aufklärerische Anliegen und die Befreiung zum Einzelnen aus und verkehren sie in ihr Gegenteil, so Hans Jörg Hemminger [18] . Thomas Anz  vom Rezensionsforum für Literatur und Kulturwissenschaft bei literaturkritik.de beargwöhnt die „säkulare Heilslehre“ und „missionarischen Eifer“, wie sie in der rigorosen Unterscheidung von „guten Gefühle“ und „bösen Affekte“ in einer Publikation über „Eros und Gefühl“ aus dem Rattner-Kreis formuliert wird [19] .

Von diesem un-tiefenpsychologischen Manichäismus und Moralismus sind auch die zahlreichen literaturpsychologischen Arbeiten aus der Rattner-Factory infiziert: der Literaturwissenschaftler Oliver Pfohlmann moniert darüber hinaus den Mangel an Recherche und originären Forschungsbeiträgen in einem Sammelband „Österreichische Literatur und Psychoanalyse“ eines Rattner-Autorenteams. Längst Bekanntes und Allgemeinplätze lägen vor und ein Mangel an Bezug zu bereits vorliegenden Forschungsergebnissen [20] . Der Anspruch an „Dialog“, „Weltoffenheit“ wird nicht eingehalten, ebenso vermisst man die kühne Meinung des „Einzelnen“, der besonderen Individualität, in die der Bildungsprozeß in der Großgruppe münden soll [21] . Abgründiges, Widersprüchliches oder Bedrohliches in den dort behandelten Dichterbiographien werden in ihrer Bedeutung heruntergespielt oder umgedeutet, bis sie in das Muster passen, das als „wahre Humanität“ gepriesen wird. Das entspricht der Tendenz in der Großgruppe, Therapie mit Pädagogik und Bildung gleichzusetzen, brisante Themen und die Auseinandersetzung mit starken Affekten und Aggression aus psychohygienischen Gründen zu vermeiden und Konflikte als vor allem zerstörerisch zu bewerten [22] . Dabei spielt ein spezielles Goethe- und Nietzsche-Verständnis Rattners eine wesentliche Rolle [23] und der Einfluß alter sozialistische Ideale zur Schaffung eines „neuen Menschen“ – allerdings „fern von der Politik“, im Raum der Kultur [24] .

Viktor Frankl sagt hochbetagt 1993 in einem Interwiew, dass jeder Begründer einer Psychotherapierichtung in seinen Büchern eigentlich nur seine eigene Krankengeschichte geschrieben und dabei die Probleme zu lösen versucht, die er selbst durchgemacht hat [25] .

Josef Rattner wird 1928 als Sohn des jüdischen Schusters Baruch Rattner im Arbeiterbezirk Brigittenau in Wien geboren. Der Vater kam wahrscheinlich bereits als Jugendlicher als Soldat aus seinem Geburtsort Hussakow in der heutigen Ukraine -zwischen Mosciska und Lemberg gelegen- mitten aus den dort tobenden Kriegswirren und Judenprogromen des Ersten Weltkrieges nach Österreich [26] . Hussakow zählte 1869 laut Ortsrepetitorium des Königreichs Galizien und Lodomerien [27] 1314 Einwohner und 192 Häuser, die zugehörige Kreisstadt Mosciska 3695 Einwohner, 1914 etwa 5000 [28] . Das erste Quartier Baruch Rattners, der eigentlich Wittmann hieß,  war die Munitionsfabrik Wöllersdorf südlich von Wien. Nach seiner Meisterprüfung betreibt der Vater eine Schusterwerkstatt  in der Klosterneuburgerstrasse, einer wirtschaftlich nicht unwesentlichen Hauptverkehrsader im Nordosten Wiens. Zwischen 1920 und 1938 wechselt die Familie mehrmals die Wohnung innerhalb des zwanzigsten Bezirks Brigittenau, nördlich des jüdischen Ghettobezirkes Leopoldstadt, zwischen Donau und Donaukanal gelegen. Rattner ist das jüngste von fünf Geschwistern, geboren, als die Familie in der Rauscherstrasse wohnt, in einem Haus an dem noch heute in großen Steinbuchstaben „Josefshaus“ zu lesen ist, was die Namensgebung des Letztgeborenen angeregt haben mag [29] . Geburt und Kindheit Rattners fallen in eine Zeit heftiger sozialer Kämpfe: 1927 brennt der Justizpalast, 1934 etabliert sich nach dem Verbot der Sozialisten und Bürgerkrieg die austrofaschistische Dollfuß-Diktatur, 1938 kommt es nach der Ermordung Dollfuß durch die Nazis zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, Hitler annektiert Österreich, Judenverfolgungen und Verhaftungswellen bestimmen den Alltag, Egon Friedell nimmt sich in dieser Situation das Leben, ein prominentes Opfer unter herausragenden jüdischen Intellektuellen unter vielen. Der Meldezettel dokumentiert, dass die Familie Rattner am 8.10.1938 „nach unbekannt verzogen“ ist. Es folgt ein Leben im Durchgangslager Schaffhausen in der Schweiz, ständig unter der drohenden Gefahr plötzlicher Ausweisung. Nur durch glückliche Umstände entgeht die Familie der Verhaftungs- und Vernichtungsmaschinerie der Nazis [30] .

Im Unterschied zu Viktor Frankl, der später ausführlich über seine traumatische Erfahrung im Konzentrationslager schreibt, gibt es von Rattner keine Zeugnisse über seine Kindheit und Jugend im Schatten der faschistischen Judenverfolgungen. Selbst in seinem Buch „Tiefenpsychologie und Politik“ von 1970, in dem er sich ausführlich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, kommt das Thema Antisemitismus und Judenverfolgung nur am Rande anlässlich eines Psychogramms des Auschwitz-Kommandanten Höß vor [31] . In einem Interwiew mit Rudolf Zucha von 1988 in der „Zeitschrift für Sozialpsychologie und Gruppendynamik“ beantwortet Rattner die Frage nach seinem Lebensweg: „Geboren 1928 in Wien, nach dem Krieg bin ich in die Schweiz gegangen und habe dort studiert.“ [32]

Im Lagerleben in der Schweiz lernt die Familie Rattner Friedrich Liebling kennen, den späteren Adoptivvater und psychotherapeutischen Lehrer Josef Rattners. Der Autodidakt ist zwei Jahre älter als Rattners Vater, stammt ebenfalls aus Galizien, lebte als Geschäftsmann in Wien. Als Zeichen seiner Lossagung vom Judentum hat er seinen Vornamen „Salomon“ abgelegt und nennt sich „Friedrich“. Viele Verwandte Lieblings waren bereits in KZs umgekommen [33] . Liebling wurde wegen „Erziehungsschwierigkeiten“ der Brüder  Rattner von deren Eltern aufgesucht, „ich hatte selbst viele und schwere Probleme in meiner Pubertät“, bekennt Rattner [34] . Rattner wird als Jugendlicher von Liebling adoptiert, „er schien einen Narren an mir gefressen zu haben und verkündete mir und anderen gegenüber, dass aus mir etwas Bedeutendes werden könne.“, so Rattner. Die Eltern wandern 1946 nach Brasilien aus und lassen die Kinder zurück [35] .

Erst Jahre später nach dem Umzug nach Zürich kehrt so etwas wie Normalität ein und Rattner kann in Zürich studieren, Literatur und Psychologie, später Medizin. Seinen Doktor der Philosophie schließt der 24-jährige mit einer Arbeit zum „Menschenbild in der Philosophie Martin Heideggers“ ab, das Medizinstudium mit einer preisgekrönten Dissertation über „Das Wesen der schizophrenen Reaktion“ einige Jahre später. Das Zusammenleben mit Liebling ist eine harte Schule, durch ihn macht Rattner aber Bekanntschaft mit der Lehre Alfred Adlers und Denkern des Anarchismus und Sozialismus und einer atheistischen Weltanschauung. Unter der charismatischen Führung seines Mentors unterstützt der ehrgeizige und begeisterte junge Intellektuelle den Aufbau der Großgruppentherapie in Zürich, das Unternehmen wird auf über tausend Beteiligte anwachsen. In mehreren biographischen Essays [36] würdigt Rattner Liebling als große Persönlichkeit, zuletzt noch 1992, zehn Jahre nach dessen Tod, ohne ein kritisches Wort zu den problematischen Entwicklungen der Züricher Großgruppe zu verlieren, die nach Lieblings Tod und heftigen Diadochenkämpfen um seine Nachfolge in den aggressiven und sektiererischen Aktivitäten des rechtslastigen „Vereins für Psychologische Menschenkenntnis“(VPM) kulminieren, Journalisten und Kritiker werden reihenweise in Prozesse wegen übler Nachrede verwickelt. In den 60er-Jahren kommt es zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen dem glänzenden designierten Nachfolger Josef Rattner und Friedrich Liebling, und ein Forschungsauftrag in Berlin 1967 bietet Rattner schließlich den geeigneten Vorwand für eine räumlichen Trennung ohne mit ihm brechen zu müssen. Er bekennt seine Verzweiflung, die mit der Trennung von Zürich und Liebling verbunden war („schmerzlich und bedrückend“ ist der Abschied für ihn,, als ob er „ein Stück  Haut einbüßt“, er gerät in starke emotionale Krisen und fühlt sich „regelrecht schutzlos“ [37] ), die Verehrung für den „Geburtshelfer seines Geistes“ bleibt aber ungebrochen, mehr denn je fühlt er sich den Idealen Friedrich Lieblings verpflichtet, überzeugt, die Botschaft seines Mentors besonders tief verinnerlicht zu haben [38] . Das Projekt einer eigenen Großgruppe in Berlin ist  damit geboren, belastet mit allen unaufgearbeiteten Problemen der Züricher Gruppe und ihrer autoritären und kultischen Fixierung auf Liebling. In den darauffolgenden Jahren wird Liebling ihn mit harscher Kritik überhäufen und Rattners Großgruppe in Berlin nicht als eigenständig anerkennen.  Liebling-Anhänger spalten sich von Rattner ab, Patienten und Schüler geraten in Loyalitätskonflikte. In Berlin wird ein „Ableger“ der Züricher-Gruppe gegründet.

Ob Liebling tatsächlich ein Schüler Adlers war ist nicht belegt [39] . Rattner betreibt aber weiter eine Rehabilitierung Adlers, als ob eine Schuld oder Mission abzuarbeiten wäre. Wissenschaftlicher Anspruch und Heilslehre etablieren sich nebeneinander.

1982 wird Rattner nach längeren Bemühungen und auf Antrag engagierter Mitarbeiter der Titel eines Professors ehrenhalber von der österreichischen Bundesregierung verliehen. In seiner Rede anlässlich der Verleihung charakterisiert er die Großgruppe über Psychotherapie hinaus als „Lebensschule“, „Akademie für die Kunst des richtigen Lebens und Denkens, getragen von der Tiefenpsychologie als Zentrum einer humanistischen Weltanschauung, als Wissen des Menschen um sich selbst und seine zwischenmenschlichen Beziehungen, als Basis für sein Glück und seinen Lebenserfolg“ [40] . Nur wenige Jahre später finden sich die Getreuen, deren Einsatz er den Ehrentitel mit zu verdanken hat, unter ihnen Universitätsprofessoren, in der Großgruppe nicht wieder.

1994 erleidet der 66-jährige einen Herzinfarkt, er überlebt und setzt sich öffentlich im „Jahrbuch“ mit seiner Krankheit auseinander: er sieht darin die „Quittung für 45 Jahre Dienst an der neurotischen Menschheit. Es war viel Aufregung, Anspannung, Traumatisierung und Frustration im Spiel“. Später bilanziert er seine Träume als „utopisch“, mit dieser Gemeinschaft eine tiefenpsychologische Akademie zu gründen. Das „menschliche Material sei zu spröde und widerstrebend“, zitiert er zustimmend den alten Goethe, man könne damit keine „wahrhaft großen Werke vollbringen“ [41] . Die Mitarbeiter hätten nicht die nötigen Voraussetzungen mitgebracht. Rattner beklagt schließlich seinen „doch im Alter leicht frierenden Organismus, der in der Unvernunft und Kälte der Epoche manchmal erheblich gelitten hat“ [42] . 1998 besteht der Arbeitskreis Rattners seit dreißig Jahren, gefeiert wird er von niemandem, ebenso wenig Rattners 70. Geburtstag im gleichen Jahr. Es gibt keine Festschrift aus dem Kreis der fünfzig bis sechzig in der Großgruppe verbliebenen Therapeuten-Veteranen. Mit diesen hatte es noch nicht lange Zeit davor eine Art Abrechnung gegeben, in Artikeln über „Lüge, Wahrheit, Hochstapelei“, „Klageweiber in der Therapie“ und „Wohlerzogene und verwahrloste Patienten“ schüttet er seine enttäuschten Erwartungen und seinen Ärger  über seine Co-Therapeuten aus [43] . 1999 erhält Rattner das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, eine Auszeichnung, die nach Auskunft der Präsidentschaftskanzlei „nach §1 Bundesgesetz“ „auf Antrag oder Vorschlag von Privatpersonen, Vereinen oder Botschaften“ verliehen wird, „an runden Geburtstagen in eher fortgeschrittenem Alter“. Und: „bevor der nächste ausgezeichnet wird, muß erst einer sterben“ [44] .

Praktisch hält Rattner entgegen aller Selbstcharakterisierung („unser Arbeitskreis als wissenschaftliche und therapeutische Gemeinschaft war und ist antiautoritär, pluralistisch und liberal“ [45] ) im Stil eines „aufgeklärten Absolutismus“ am Prinzip der autoritären Führung  fest, auch wenn er nach seiner schweren Krankheit den Gruppenveranstaltungen fernbleibt interveniert er im Stil einer abwesenden Anwesenheit umso effektiver und lenkt die Geschicke [46] .  Zunehmend wird mit Kritikern und Ablösungswilligen in einer Art umgegangen, die nach heutigem Verständnis von Mobbing nicht weit entfernt ist, berichten ehemalige langjährige Mitarbeiter aus jüngster Vergangenheit [47] : mit Verweigerung von Kommunikation, Stigmatisierung als psychisch Kranke, Herabwürdigung, Isolierung, hinterhältigen Absprachen, Desinformation, aber Beschönigung und Verleugnung des Konflikts den Opfern gegenüber – nach den Forschungen der Viktimologin und Analytikerin Marie-France Hirigoyen („Die Masken der Niedertracht“) Symptome perverser Beziehung in einem gestörten sozialen System [48] . Das alles will zu einer Bewegung nicht passen, die Aufklärung und Befreiung auf ihre Fahnen geschrieben hat, die vorgibt, Persönlichkeitsbildung und Selbstentfaltung, „vornehmes Menschentum“ und „Wahrheit“ anzustreben [49] .

Kritische Schüler und eine aufmerksame Öffentlichkeit und Fachwelt sind der Berliner Großgruppe und Josef  Rattner zu wünschen, Erfolg, der Berührung, Dialog und damit Wandlung und Weltoffenheit erzwingt. Repressive Gruppenführung und Abschottung von äußeren Einflüssen wiederholen die Abwehr gegen die Angst, das Elend und die Bedrohung, die Rattner in seiner Kindheit und Jugend erlitt und verdrängte: scheinbar aufgelöst in einem reinen Wertehimmel großartiger Identifikationen, in einem ganz eigenen Universum mit Goethe, Adler, Nietzsche und Friedrich Liebling, einem Bollwerk zum Schutz vor Schmerz und Verletzung, menschlichen Schwächen und Abgründen, vor Schuld, Scham und Vergänglichkeit. Es ist eine unterkühlte Welt abstrakter Ideale und geträumter Größe, in der, so schreibt der Daseinsanalytiker Gion Condrau („Das verletzte Herz“), aufgrund eines vergotteten Leistungsprinzips sich „Liebe, die Stimmung des Sich-freuen-Könnens, des warmen, spontanen, temperamentvollen Pulsierens im Kreis menschlicher Gemeinschaft“ [50] nicht entfalten können.
 


[1] Albrecht H, Der Traum von der Gemeinschaft und der weite Weg zu sich selbst – Die Berliner Großgruppentherapie Josef Rattners: eine kritische Bilanz – erweitertes unveröff. Manuskript eines Vortrages vom 7. Mai 1999 im Rahmen des 4. Forums für Daseinsanalyse „Zeitgeist und Zeitwende in Psychotherapie und Kultur“, Zürich
[2] Frankfurt am Main 1973, 97. Tausend 1977
[3] Frankfurt am Main 1974, 30. Tausend 1978
[4] Rattner J (1961): Individualpsychologie, München, Kindler, Rattner J (1963): Psychologie und Psychopathoplogie des Liebeslebens, Bern, Huber, unveränd. Neuaufl. Frankf.M 1981, Rattner J (1972): Alfred Adler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek, Rowohlt Taschenbuchverlag, Rattner J (1986): Alfred Adler zu Ehren zu seinem 50. Todesjahr, Jahrbuch für Verstehende Tiefenpsychologie und Kulturanalyse, Band 6/7, Berlin, Verlag für Tiefenpsychologie, Rattner J (1990): Psychotherapie und Psychohygiene im Geiste Alfred Adlers, Jahrbuch für Verstehende Tiefenpsychologie und Kulturanalyse, Berlin, Verlag für Tiefenpsychologie. [in weiterer Folge als JB zitiert]
[5] Rattner J (1977): Verstehende Tiefenpsychologie, Berlin, Verlag für Tiefenpsychologie, Rattner J (1990a): Klassiker der Tiefenpsychologie, München, Psychologie Verlags Union
[6] Brunner R, Kausen R, Titze M[Hrsg.] (1985): Wörterbuch der Individualpsychologie, München, Ernst Reinhardt, S. 192 und 188f.
[7] Rattner J (1973): Gruppentherapie – Die Psychotherapie der Zukunft, Frankf.M, 1977 im 35.Tausend
[8] Persönliche Recherche Mai 2001, Quelle namentlich bekannt
[9] Persönliches Interwiew mit Dipl.-Psych. Dr. KK (Name geändert) November 2002
[10] Miteinander leben lernen, Zeitschrift für Tiefenpsychologie, Persönlichkeitsbildung und Kulturforschung, Herausgegeben von Günther Gödde, Berlin 1976 ff., ab 1989ff. Alleinherausgeber Josef Rattner [in weiterer Folge als mll zitiert]. Vgl. besonders mll 6/1980, 5/1982,4/1984, 4/1986, JB 14/15, 1994/95,
[11] Zum Thema Missbrauch der Therapiegruppe durch den Gruppentherapeuten für eigene Therapie: Cohn H W (1994): The Philosophy of S. H. FoulkesExistential-phenomenological aspects of Group Analysis, Manuskript
[12] Rattner J (1990a)
[13] Hemminger HJ (2001), Das Heil liegt in der Gruppe – Josef Rattner: Gruppenfähigkeit als Lebensaufgabe, Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen, Evang. Landesdienst f. Württemberg, www.gemeindedienst.de/weltanschauung
[14] Rattner J: mll 4/94 und JB 16/17 1996/97, S 190
[15] Janz D (2000), Brief an den Autor vom 31.Juli
[16] Cohn H W (1999), Brief an den Autor vom 14. Mai
[17] Rattner J(1986): Autobiographie 1976-1986, in mll 4/1986, S 30ff.
[18] Hemminger HJ (2001)
[19] Anz Th (2000), Emotionen zwischen den Disziplinen, www.literaturkritik.de, Rezensionsforum für Literatur und Kulturwissenschaft, 3.3.2000, Rezension von Fuchs I, Eros und Gefühl, mit Beiträgen von G. Danzer, A. Levy, J. Rattner, Würzburg 1998, Königshausen und Neumann
[20] Pfohlmann O (2000), Josef Rattner und Gerhard Danzer über „Österreichische Literatur und Psychoanalyse“, www.literaturkritik.de , Rezensionsforum für Literatur und Kulturwissenschaft, Nr. 1, Januar
[21] Rattner J (1995): Grossgruppentherapie, in mll 5/1995
[22] Rattner J (1995): Grossgruppentherapie, in mll 5/1995; Rattner J (1984): Berliner Großgruppentherapie – ein autobiographischer Bericht, JB 4/1984
[23] Rattner J (1999): Goethe Leben Werk und Wirkung; Rattner J (2000): Nietzsche Leben Werk und Wirkung, Würzburg, Könighausen und Neumann
[24] Rattner J (1994): Hat der Sozialismus eine Zukunft?, in mll 3/94, S 28 und 33; Rattner J (1979): Credo, in: Rattner, J, Tiefenpsychologie und Sozialismus, Berlin
[25] Frankl V (1993): Den Trotz des Geistes wecken, Interwiew mit R. Ludwig, NDR 19.3.1993
[26] Recherche bei der Israelitischen Kultusgemeinde sowie dem Österreichischen Kriegsarchiv Juli 2001
[27] Wien 1874,Gerolds Sohn, Nachdruck 1989, Berlin, Wilhelm Scherer 
[28] Illustrierter Führer durch Galizien,Wien Leipzig 1914, Hartleben
[29] MA der Stadt Wien, Wiener Stadt- und Landesarchiv, Schreiben vom 27.6.2001; Trauungsbuch der israelitischen Kultusgemeinde; eigene Recherche
[30] Sorg E (1991): Liebligs-Geschichten, Zürich, Weltwoche ABC-Verlag, S 135ff.
[31] Rattner J (1970): Tiefenpsychologie und Politik – Einführung in die politische Psychologie, Freiburg im Breisgau, Rombach
[32] Zucha R O (1989), Im Gespräch: Prof. DDr. Josef  Rattner, in Z f  Sozialpsychologie u Gruppendynamik, 14. Jg., 4/89
[33]  Sorg E (1991), S 119ff.
[34]  Rattner J (1992): Erinnerungen an F. Liebling, in mll 2/92
[35] Sorg E (1990), S 135
[36] Rattner J (1986a): Der Tod F. Lieblings, in mll 4/1986; Rattner J (1992)
[37] Rattner J (1976): Der Aufbau des Arbeitskreises in Berlin 1967-76, Berlin
[38] Rattner J (1986)
[39] Sorg E (1990), S 110f.
[40] Rattner J (1983): Was ist Psychotherapie?, in JB 3/83
[41] Rattner J (1998): 30 Jahre Arbeitskreis für Tiefenpsychologie, in mll 6/98
[42] Rattner J (1994): Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen, JB 14/15, 1994/95
[43] mll 4/1993 und 1/1996
[44] Auskunft der Wiener Präsidentschaftskanzlei, Anfrage vom Mai 2000
[45] Rattner J (1986)
[46] Albrecht H (1999)
[47] Bauknecht M (1999): Vorstellungen von Gemeinschaft, entwickelt in der Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis des Arbeitskreises für Tiefenpsychologie, Unveröff. Manuskr., Berlin 2000; Persönliches Interwiew mit Dipl.-Psych. MM und HH (Namen geändert) Juni 2001
[48] Hirigoyen M-F (2002): Die Masken der Niedertracht, München, DTV, S 80ff.
[49] Rattner J (1998a): Vornehmheit, in mll 2/98; Rattner J (1993a): Psychotherapie und Wahrheit, in mll 4/93
[50] Condrau G, Gassmann M (1989): Das verletzte Herz, Zürich, Kreuz
(Der Text kann hier auch als WORD-Datei abgerufen werden)

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