Zurück


Die Berliner Blätter für Psychoanalyse und Psychotherapie veröffentlichen hier die Gutachten und Minderheitenvoten des nach dem Psychotherapeutengesetz geregelten

WISSENSCHAFTLICHEN BEIRAT PSYCHOTHERAPIE
bei der Bundesärztekammer

zur Ablehnung der wissenschaftlichen Anerkennung von Gesprächspsychotherapie und zur Systemischen Therapie

 

Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie

Gutachten zur Systemischen Therapie als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren

Das Gutachten beruht auf der Dokumentation der Arbeitsgemeinschaft für Systemische Therapie (AGST) vom Dezember 1998 (Eingang beim Wissenschaftlichen Beirat am 19. Februar 1999) und den mit Schreiben vom 16. April 1999 angeforderten Unterlagen (Eingang beim Wissenschaftlichen Beirat am 11. Mai 1999).

In der übersichtlichen Dokumentation werden zu allen im Leitfaden aufgeführten Punkten Angaben gemacht; die Qualität der Dokumentation hat die Erarbeitung der Stellungnahme sehr erleichtert.

1. Systemische Therapie definiert sich als „Schaffen von Bedingungen für die Möglichkeit selbstorganisierter Ordnungsübergänge in komplexen bio-psycho-sozialen Systemen unter professionellen Bedingungen". Entsprechend liegt der Schwerpunkt der Interventionen im familientherapeutischen Bereich. Das Menschenbild der Systemischen Therapie orientiert sich an existenzialphilosophischen und phänomenologischen Entwürfen des Menschen (zum Beispiel Buber, Jaspers, Marcel), dem Konzept der Salutogenese und der anthropologischen Medizin (V v. Weizsäcker) und beansprucht, sich von anderen Psychotherapieverfahren wesentlich zu unterscheiden.

Auf der theoretischen Ebene wird der Anspruch auf ein originäres Therapieverfahren (die Systemische Therapie) erhoben, das sich von anderen Verfahren unterscheidet und unter Berufung auf eine Reihe sehr heterogener Grundpositionen begründet, die von philosophischen, anthropologischen und wissenschaftstheoretischen Klassikern über die Chaostheorie bis hin zu klinisch-psychologischen Theorien reichen. Ohne die notwendigen Vermittlungsschritte zwischen den anthropologischen Vorannahmen und einer Theorie der Technik zu beschreiben, werden auf der konkreten Handlungsebene dann Techniken und Methoden beschrieben, die etwa aus den psychoanalytisch orientierten oder den verhaltenstherapeutischen Verfahren bereits bekannt sind. Es fehlt somit eine nachvollziehbare Beziehung zwischen Theorie und Praxis im Kontext einer übergeordneten Konzeption.

z. Die Ausführungen zu spezifischen ätiologischen Konzepten und Modellen

derjenigen Erkrankungen, deren Behandlung in den Wirksamkeitsstudien untersucht wurde, sind unzureichend, zum Teil unzutreffend (zum Beispiel zum Hyperkinetischen Syndrom).

Von der AGST wurden zum Beleg der Wirksamkeit der Systemischen Therapie insgesamt 26 als kontrollierte Studien bezeichnete Untersuchungen zusammengestellt. Zahlreiche dieser vorgelegten Studien konnten nicht berücksichtigt werden, da es sich entweder nicht um kontrollierte Therapiestudien handelte, schwere methodische Mängel eine Interpretation der Ergebnisse verhinderten oder aus den Veröffentlichungen nicht hervorging, ob und in welchem Umfang die behandelten Probanden behandlungsbedürftige psychische Störungen aufwiesen.

- In fast allen der verbleibenden Studien waren ausschließlich Kinder und Jugendliche die Indexpatienten.

- Alle berücksichtigten Untersuchungen sind Familientherapie-Studien.

,- In nur wenigen Studien konnte die Wirksamkeit in solchen Ergebnis-Variablen gesichert werden, die eine gewisse Relevanz für die behandelte Störung aufwiesen.

- Nur eine dieser Studien wurde im deutschen Sprachraum, alle anderen wurden in einem anderen kulturellen Kontext durchgeführt (überwiegend in den USA, darunter mehrere Studien mit latino-amerikanischen Familien). Die Frage, inwieweit die Untersuchungsergebnisse kulturspezifisch sind, und damit das Problem der Generalisierbarkeit werden nicht diskutiert.

Aussagen über die Wirksamkeit der Systemischen Therapie können sich somit - unabhängig von der noch zu beurteilenden Qualität der Studien - nur auf die systemische Familientherapie, vor allem bei Kindern und Jugendlichen als Indexpatienten und mit der Einschränkung einer fraglichen Generalisierbarkeit beziehen.

Alle berücksichtigten Studien weisen nun aber in unterschiedlichem Ausmaß zum Teil erhebliche methodische Mängel auf, die hier nur summarisch erwähnt werden:

- ungenügende Beschreibung der behandelten Patienten (fehlende beziehungsweise ungenaue Angaben zu Diagnose, Medikation, Vorbehandlung, Schweregrad, Abbrecherquote), wodurch die Vergleichbarkeit der behandelten Gruppen schwierig beziehungsweise unmöglich ist

- geringe Fallzahlen in den Gruppen bei gleichzeitigem Fehlen von Poweranalysen

- ungenügende Angaben zu Therapeutenvariablen

- unzureichende Beschreibung der Zuweisungsmodi; keine randomisierte Zuweisung in den meisten Studien

- geringe Effekte (keine Effektstärke-Berechnungen), in der Regel keine signifikanten Unterschiede zu Vergleichs-Psychotherapie-Gruppen (so überhauptvorhanden)

- fehlende beziehungsweise unzureichende Katamnesen.

Schlussendlich bleibt eine unzureichende Anzahl von Studien, deren Ergebnisse unter methodischen und klinischen Gesichtspunkten relevant erscheinen: In diesen Studien wurden Kinder und Jugendliche mit Verhaltensund Aufmerksamkeitsstörungen in einem familientherapeutischen Setting erfolgreich behandelt. Auch in diesen Studien bleibt die Übertragbarkeit auf die deutsche Versorgungspraxis fraglich.

Auf Grundlage der vorgelegten Untersuchungen können keine Aussagen zu Kontraindikationen und unerwünschten Wirkungen gemacht werden.

3. Systemische Behandlungen sind typischerweise Kurzzeit-Behandlungen, sie dauern in der Regel nur wenige Sitzungen. Möglicherweise kommt der Systemischen Therapie damit eher eine Screening-Funktion in Bezug auf weiteren Behandlungsbedarf zu. Aufgrund fehlender Angaben zur Validität ist eine Beurteilung der Eignung als Screenringinstrument jedoch nicht möglich.

Zusammenfassende Stellungnahme

Bei der Systemischen Therapie ist die konzeptionelle Verbindung von (anthropologischer und ätiologischer) Theorie und therapeutischer Praxis unzureichend. Entscheidend für die Bewertung jedoch ist, daß die Wirksamkeit der Systemischen Therapie auch für einen eingeschränkten Anwendungsbereich derzeit nicht als nachgewiesen gelten kann. Die Systemfische Therapie kann daher derzeit nicht als wissenschaftlich anerkanntes Verfahren eingestuft werden.

Die Hinweise zur Wirksamkeit familientherapeutischer Interventionen (bei Kindern und Jugendlichen als Indexpatienten) sind jedoch vielversprechend und sollten, zumal angesichts der kurzen Behandlungszeiträume, bei Patienten aus dem deutschen Sprachraum in Studien mit angemessener Methodik weiter verfolgt werden.

Köln, den 29. September 1999
Prof. Dr. J..Margraf (Vorsitzender)
Prof. Dr. S. O. Hoffmann
(Stellvertretender Vorsitzender)

Minderheitsvotum

Abweichend vom Mehrheitsbeschluss des Wissenschaftlichen Beirats, ist festzustellen:

Die Systemfische Therapie ist eine Gruppe von Verfahren mit weitgehend eigenständigen theoretischen Positionen im Vergleich zu den theoretischen Annahmen der Psychoanalyse und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wie auch von den theoretischen Konstrukten der verhaltenstherapeutischen Verfahren.

Die Vermittlungsschritte zwischen den theoretischen Voraussetzungen und der Begründung diagnostischen wie therapeutischen Handelns sind hinreichend klar erkennbar. Eine Überschneidungsmenge von einzelnen Techniken und Verfahren, die in der Systemfischen Therapie angewendet werden, und die ebenfalls in anderen Formen der Psychotherapie angewendet werden, wie etwa bestimmte verbale und nonverbale Interventionen können solange kein Argument gegen eine wissenschaftliche Anerkennung der Systemfischen Therapie sein, wie sie mit deren theoretischen Positionen in einem tatsächlichen oder auch hypothetischen operationalen, finalen oder kausalen Zusammenhang gesehen werden können. Insoweit sind in der Systemfischen Therapie die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis durchaus nachvollziehbar. Die Ausführungen zur Ätiologie der Krankheitsbilder, die in den vorgelegten Studien behandelt werden, enthalten psychologische Annahmen. Wenn diese von biologischen Annahmen abweichen, ist dies jedoch kein gerechtfertigtes Argument der Kritik angesichts der allgemein anerkannten multiätiologischen Krankheitsmodelle im Bereich der psychischen und Verhaltensstörungen.

Damit bleibt von den Ablehnungsgründen der Mehrheitsentscheidung allein die Frage übrig, ob die vorgelegten 26 empirischen Untersuchungen eine wissenschaftliche Anerkennung der Systemfischen Therapie aufgrund der in ihnen enthaltenen Wirksamkeitsnachweise zulassen oder nicht. Für den Wirksamkeitsnachweis hat der Wissenschaftliche Beirat in seinem „Leitfaden für die Erstellung von Gutachtenanträgen zu Psychotherapieverfahren" vom Februar 1999 grundsätzlich verschiedene Arten von Untersuchungen anerkannt. Explizit aufgeführt sind dort „zum Beispiel kontrollierte Gruppenstudien, gegebenenfalls auch kontrollierte Einzelfallstudien, Metaanalysen". Durch die beispielhafte Aufführung dieser Verfahren hat er ausdrücklich auch andere Untersuchungsarten zugelassen, sofern diese multimodale Erfolgsnachweise, Angaben über die Störungen der Patientinnen, Dauerhaftigkeit der Therapieerfolge und deren Bezüge zum in Frage stehenden Behandlungsverfahren enthalten.

Ergänzend hat er durch Beschluss vom 29. September 1999 zur Anerkennung von Psychotherapieverfahren als wissenschaftlich eine Überprüfung der Wirksamkeitsnachweise für jeden einzelnen von 12 Anwendungsbereichen der Psychotherapie bei erwachsenen Personen eingeführt. Das Vorhandensein von mindestens zwei Kontrollgruppenuntersuchungen für jeden dieser 12 Anwendungsbereiche ist dabei letztlich entscheidungsbegründend.

Das Ergebnis der Begutachtung der Systemfischen Therapie durch den Wissenschaftlichen Beirat kann damit allein durch die nach den dargelegten Kriterien derzeit zu geringe Anzahl kontrollierter Wirksamkeitsstudien in den einzelnen Anwendungsbereichen der Psychotherapie begründet werden.

Regensburg, 14. Oktober 1999

Prof. Dr. G.-W Speierer


Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie

Gutachten zur Gesprächspsychotherapie als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren

Das Gutachten beruht auf der von der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie vorgelegten Dokumentation zur Anerkennung der Gesprächspsychotherapie von Prof. Sachse sowie auf eingehenden Beratungen im Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie. Aufgrund der wiederholten Bitte des Wissenschaftlichen Beirats, zusätzlich Kopien der Originalarbeiten zur Effektivität der Gesprächspsychotherapie vorzulegen, sandte die GwG am 2. August 1999 und am 24. September 1999 als weitere Unterlagen

- eine Übersicht über „Effektivitätsstudien über Gesprächspsychotherapie von 1962-1999" von Prof. Sachse,

- siebzehn Kopien von „Originalarbeiten zur Effektivität der Gesprächspsychotherapie", von denen sich jedoch lediglich wenige als Effektivitätsstudien herausstellten,

- achtundzwanzig Kopien von „Effektivitätsstudien über Kinder- und Jugendlichenpsychotherapien", von denen sich lediglich wenige als Effektivitätsstudien herausstellten.

Eine fundierte Beurteilung alleine aufgrund der schematischen Kurzdarstellungen der vorgelegten Übersicht von Prof. Sachse war nicht möglich. Der größte Teil der in der Übersicht aufgelisteten Studien wurde jedoch nicht als Originalarbeit vorgelegt. Der Wissenschaftliche Beirat hat von sich aus weitere Originalarbeiten zur Beurteilung herangezogen. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass aufgrund der unzureichenden Unterlagen Arbeiten übersehen wurden, die die Beurteilung der Gesprächspsychotherapie beeinflussen könnten.

Die ansonsten vom Wissenschaftlichen Beirat erbetenen Informationen wurden in der eingereichten Dokumentation dargestellt. 

1. Definition

Die Gesprächspsychotherapie geht zurück auf die Arbeiten von Carl R. Rogers, der ein allgemeines psychotherapeutisches Konzept im Sinne einer Anleitung zur besonderen Gestaltung der psychotherapeutischen Beziehung oder des psychotherapeutischen Gesprächs entwickelte. Im Laufe der Jahre ist dieses therapeutische Konzept weiterentwickelt und differenziert worden. Neben dem klassischen Vorgehen entstanden Ansätze, bei denen der Therapeut stärker den therapeutischen Prozess steuert, um spezifische Therapieziele zu fördern beziehungsweise um den Besonderheiten einzelner Störungen oder einzelner Patienten gerecht zu werden. Dazu werden zum Teil auch zusätzliche therapeutische Methoden zur Erweiterung der „Selbstexploration" oder der Erlebnisfähigkeit des Patienten eingesetzt, die zum Teil aus einer Weiterentwicklung der Gesprächspsychotherapie resultieren (zum Beispiel „experiencing"), zum Teil aus anderen Therapierichtungen, vor allem der Gestalttherapie, übernommen wurden. Die Gesprächspsychotherapie ist demnach heute zwar im Wesentlichen ein einheitlicher therapeutischer Ansatz, aber mit unterschiedlichen Ausprägungsformen. Eine Differenzierung der Beurteilung nach den einzelnen Formen oder Ansätzen der Gesprächspsychotherapie wird vom wissenschaftlichen Beirat nicht vorgenommen. Ansonsten spiegeln diese Differenzierungen die Weiterentwicklung der Gesprächspsychotherapie wider, wie sie auch bei anderen Therapieformen zu finden ist.

Gesprächspsychotherapie wird vorwiegend in Form von Einzeltherapie, aber auch in Form von Gruppentherapie durchgeführt. Für beide Formen liegen Effektivitätsstudien vor,

2. Indikationsbereich

Die Gesprächspsychotherapie ist im gesamten Spektrum psychischer und psychosomatischer Störungen eingesetzt worden. Nach den Regeln der klassischen Gesprächspsychotherapie ist die Vorgehensweise bei den einzelnen Störungen nicht unterschiedlich. In den stärker direktiv orientierten Weiterentwicklungen der Gesprächspsychotherapie werden jedoch bei der Gestaltung der Therapie zunehmend Besonderheiten einzelner Störungen berücksichtigt. Die Tatsache, dass unterschiedliche Störungen nicht oder nur bedingt zu einer jeweils spezifischen Therapiegestaltung führen, kann grundsätzlich akzeptiert werden, befreit jedoch nicht von der Notwendigkeit, die Wirksamkeit dieses relativ einheitlichen Vorgehens für jeden Indikationsbereich getrennt nachzuweisen. Dazu Näheres unter Punkt 5. Auf Grundlage der vorgelegten Untersuchungen können keine Aussagen zu Kontraindikationen und unerwünschten Wirkungen gemacht werden.

3. Theorie

Im Mittelpunkt der Störungstheorie der Gesprächspsychotherapie steht die psychische Entwicklung des Menschen, die durch subjektive Erfahrungen, die gegebenenfalls mit dem eigenen Selbstbild oder mit Normen konfligieren, beeinträchtigt wird, sodass es zu „Inkongruenzen" kommt. Diese Inkongruenzen können die „Selbstregulation" des Menschen in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlichen Funktionsbereichen beeinträchtigen.

Die zentrale Annahme einer Inkongruenz zwischen einem idealen Selbst bild und realen (Selbst-)Erfahrungen ist in verschiedenen Studien überprüft und bestätigt worden.

Die Störungstheorie ist unterschiedlich weiterentwickelt worden. In den letzten Jahren wurde vor allem versucht, spezifische Bedingungen und Entwicklungslinien für einzelne Störungen aufzuzeigen.

Psychologische und psychiatrische Forschungsergebnisse, vor allem zu den Besonderheiten einzelner psychischer Störungen, die „außerhalb" der Gesprächspsychotherapie gewonnen wurden, sind in die Störungstheorie der Gesprächspsychotherapie nicht ausreichend integriert worden. Dies ist jedoch nicht eine Besonderheit der Gesprächspsychotherapie, sondern eine Folge der Schulenbildung im Bereich der Psychotherapie insgesamt, die für fast alle Therapierichtungen jeweils bevorzugte und insofern einseitige Theorienbildungen nahe legt.

Nach der Therapietheorie der Gesprächspsychotherapie wirkt das Verfahren vor allem dadurch, dass es beim Patienten eine Klärung der konfligierenden, weitgehend vermiedenen Aspekte des Selbst fördert und damit eine Integration dieser abgelehnten Aspekte ermöglicht.

Vor allem durch die Entwicklung der so genannten „zielorientierten Gesprächspsychotherapie" sind die theoretischen Grundlagen des therapeutischen Änderungsprozesses unter Berücksichtigung der Ergebnisse psychologischer Grundlagenforschung, vor allem aus dem Bereich der Sprachpsychologie und der Kognitionspsychologie, wesentlich erweitert und differenziert worden.

Die Relevanz der theoretisch postulierten Wirkvariablen, in erster Linie die Therapeutenvariablen Empathie, Wertschätzung und Echtheit, aber auch weiterführende Annahmen über die „Explizierung", die Verdeutlichung und Bewusstmachung psychischer Inhalte, konnte in verschiedenen Studien bestätigt werden.

Auch für die Therapietheorie ist festzustellen, dass für die verschiedenen Störungen ein weitgehend einheitlicher Änderungsprozess unterstellt wird. Auch dies teilt allerdings die Gesprächspsychotherapie mit anderen Psychotherapierichtungen.

4. Diagnostik

In der gesprächspsychotherapeutischen Forschung wird Diagnostik zur Messung des Therapieerfolgs und zur Untersuchung des therapeutischen Prozesses eingesetzt. Bei der Erfolgsmessung werden vorwiegend Instrumente eingesetzt, die zum einen die speziellen, von der Theorie postulierten Veränderungen überprüfen (zum Beispiel Q-Sort-Technik zur Messung von Ideal-Selbst-Diskrepanzen), zum andern vorwiegend allgemeine Persönlichkeitsfragebögen oder Fragebögen zu einzelnen Persönlichkeitskonstrukten. Instrumente zur Veränderung der Symptomatik werden seltener benutzt.

In der praktischen Anwendung der Gesprächspsychotherapie spielt die (Eingangs-)Diagnostik eine untergeordnete Rolle. Dies entspricht der theoretischen Position der Gesprächspsychotherapie, nach der eine Differenzierung des therapeutischen Vorgehens aufgrund unterschiedlicher Diagnosen nicht oder kaum erforderlich ist. In neueren Entwicklungen der so genannten„ differentiellen Gesprächspsychotherapie" werden hingegen im Rahmen der Eingangsdiagnostik die vorliegenden Störungen diagnostiziert.

Die von der Gesprächspsychotherapie selber theoretisch geforderte Diagnostik ist Bestandteil der Therapie selber: Die inhaltlichen Äußerungen des Patienten werden fortlaufend vom Therapeuten hinsichtlich der theorierelevanten Aspekte analysiert, und die unmittelbare Antwort des Therapeuten wird darauf abgestimmt.

Inwieweit in der Praxis eine Differenzialdiagnostik durchgeführt wird, um Kontraindikationen von Psychotherapie oder speziell von Gesprächspsychotherapie auszuschließen, ist anhand der vorgelegten Studien nicht beurteilbar.

5. Nachweis der Wirksamkeit

Unter Berücksichtigung der kontrollierten Studien mit gemischter Klientel kann für folgende Anwendungsbereiche der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie festgestellt werden:

Affektive Störungen
Angststörungen
Anpassungsstörungen, somatische Krankheiten.

6. Versorgungsrelevanz

Gesprächspsychotherapie wird seit langem in erheblichem Umfang zur stationären und zur ambulanten psychotherapeutischen Behandlung eingesetzt. Das gilt in besonderem Ausmaß für die neuen Bundesländer. Über die heilkundliche Anwendung hinaus spielt die Gesprächspsychotherapie auch in verschiedenen anderen psychosozialen Dienstleistungen eine wesentliche Rolle.

7. Ausbildung

Von der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG) ist seit Jahren ein differenziertes Ausbildungskonzept entwickelt worden, nach dem sowohl die theoretischen Grundlagen als auch das praktische therapeutische Vorgehen umfassend vermittelt wer den. Dabei kann auf eine Großzahl von inzwischen erfahrenen Dozenten und Supervisoren zurückgegriffen werden.

 

B. Zusammenfassende Stellungnahme

Insgesamt kann demnach festgestellt werden, dass es sich bei der Gesprächspsychotherapie um ein theoretisch hinreichend fundiertes Therapieverfahren handelt, das für die Bereiche Affektive Störungen, Angststörungen sowie Anpassungsstörungen und somatische Krankheiten als wissenschaftlich anerkannt gelten kann.

Die Gesprächspsychotherapie kann jedoch nicht als Verfahren für die vertiefte Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten entsprechend § 1 Abs. 1 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Psychologische Psychotherapeuten empfohlen werden, da dieses Therapieverfahren nicht für die Mindestzahl von fünf der zwölf Anwendungsbereiche der Psychotherapie des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie (siehe separate Veröffentlichung) beziehungsweise für mindestens vier der klassischen Anwendungsbereiche als wissenschaftlich anerkannt gelten kann.

Köln, den 30. 9. 1999

Prof. Dr. J. Margraf (Vorsitzender)
Prof. Dr. S. O. Hoffmann
(Stellvertretender Vorsitzender)

Minderheitenvotum

1. Formal

Der Wissenschaftliche Beirat war nach Meinung der Minderheit in seiner Sitzung am 29./30. September 1999 aus folgendem Grund nicht in der Lage, die Anfrage zur wissenschaftlichen Anerkennung der Gesprächspsychotherapie abschließend zu beantworten:

Aus der Stellungnahme der beiden Berichterstatter, welche die von der GwG eingereichten Unterlagen, insbesondere die wissenschaftlichen Studien, im Detail überprüften, geht unter anderem hervor, dass die den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats im Juli zur Verfügung gestellte Dokumentation der GwG unvollständig und unrichtig sei. Außer dem konnten die Berichterstatter nicht ausschließen, dass aufgrund der unzureichenden Dokumentation andere relevante Studien nicht berücksichtigt worden seien. Diese Stellungnahme der beiden Berichterstatter wurde den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats erst in der Sitzung am 30. September 1999 als Tischvorlage zur Kenntnis gegeben.

Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats hatten somit keine Gelegenheit, die Unterlagen, insbesondere die Veröffentlichungen zu den wissenschaftlichen Studien (die den Berichterstattern allerdings erst wenige Tage vor der Sitzung am 29./30. September vorgelegt worden waren), einzusehen und sich auf diese Weise selber ein Urteil zu bilden.

2. Inhaltlich

In der Stellungnahme der Berichterstatter (und wohl auch in der vorgelegten Dokumentation) werden zur Beurteilung ausschließlich kontrollierte Wirksamkeitsstudien (im Sinne von efficacy) herangezogen. Dies steht nicht im Einklang mit den Kriterien des Wissenschaftlichen Beirats, wonach bei der Beurteilung der wissenschaftlichen Anerkennung auch andere Studien (zum Beispiel Einzelfallstudien, insbesondere aber effectiveness-Studien) berücksichtigt werden können.

Das Mitglied Prof. Richter sah sich daher nicht in der Lage, die Anfrage nach der wissenschaftlichen Anerkennung der Gesprächspsychotherapie abschlägig zu beantworten; ein Antrag auf Vertagung wurde mit großer Mehrheit abgelehnt.

Hamburg, den 4. Oktober 1999

Prof. Dr. Rainer Richter


Zurück