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Überlegungen zum Syrienkonflikt aus psychohistorischer Perspektive
Ludwig Janus

Konfliktanalyse unter Bezug auf die gesellschaftlichen Strukturen



Die arabischen Länder stehen in der Tradition letztlich noch mittelalterlicher Strukturen, wie sie das Osmanische Reich bis 1918 manifest und die Nachfolgestaaten latent bestimmten. Ausdruck dessen waren die teilweise noch monarchischen und dann überwiegend diktatorischen Regime, die der autoritätsgebundenen Mentalität der jeweiligen Bevölkerung entsprachen. Doch waren diese Gesellschaften im Kontakt mit den westlichen demokratischen Kulturen einem ständigen Labilisierungsdruck ausgesetzt (Janus 2003).

Infolge dieses Kontaktes wurde auch ein kleinerer Teil der Bevölkerung mit der westlichen Mentalität vertraut. Der arabische Frühling 2011 war ein Ausdruck der Tatsache, dass diese Kräfte auch gesellschaftlich wirksam wurden, was zu Erschütterungen der diktatorischen Regime in Tunesien, Libyen, Ägypten und im Jemen führte. In Syrien ermutigte die Bewegung des „arabischen Frühlings“ westlich orientierte Teile der Bevölkerung zu massiven, gewaltlosen Protesten gegen das Regime von Assad. Dieser versuchte mit militärischen Maßnahmen die Proteste niederzuschlagen. Doch war das Regime so schwach, dass Teile der Armee als Gegenkraft die „freie syrische Armee“ etablierten. Die gewalttätige Auseinandersetzung wirkte wie ein Magnet auf radikale islamische Gruppen, die zunehmend das Geschehen bestimmten (Agostino 2015). Diese Gruppen stehen für die latent fortbestehenden mittelalterlichen Strukturen, die sie in einem Kalifat wieder auferstehen lassen wollen. Dabei repräsentieren das Regime von Assad und der sogenannte IS die genannten mittelalterlichen Strukturen in verschiedener Ausprägung, der IS offen und das Regime Assads in säkularer Form. Beiden gemeinsam sind autoritäre Strukturen, stereotype Geschlechterrollen und apokalyptisches Denken, alles beim IS ausgeprägter und religiös begründet.

Typische Züge sind die rigorose Aufteilung der Geschlechterrollen, wobei die Frauen die alleinige Verfügung über die Kinder haben. Hierdurch werden Jungen und Mädchen sehr asymmetrisch geprägt. Mädchen sind ganz mit der Mutter identifiziert, während diese Situation für die Jungen eine Negation der Bedeutung der Mutter und eine unsichere Geschlechtsidentität zur Folge hat (Nancy Chodorow 2012).

Eine Veränderung wäre dadurch möglich, dass die Männer mehr in die Erziehung mit einbezogen würden, so dass die kastenartige Polarisierung von Weiblich und Männlich überwunden werden könnte. Die starre Dichotomie und Fremdheit der Geschlechter wird noch entscheidend durch die weithin üblichen genitalen Verstümmelungen verfestigt, die eine konkretistische Form sind, die aus prä- und perinatalen Notsituationen stammende Wut in einer Art sozialem sadistischen Ritual abzureagieren, was weiter unten erläutert werden soll. Möglicherweise war gerade die gewisse Erstarrung der islamischen Gesellschaften eine Kehrseite ihrer militärischen Erfolge, denn danach erst beginnt die Unterdrückung der Frauen, wie Taliman Ansary schreibt, ab dem Jahre 1000 n. Chr. sei der Zugang muslimischer Frauen zum öffentlichen Leben immer weiter beschnitten worden, von denselben Kräften, die „das Aufkommen der Naturwissenschaften in der islamischen Welt unterdrückten und die Vernunft als Instrument der ethischen und gesellschaftlichen Erkenntnis ablehnten“ (Ansary 2010, S. 126).
Die autoritären Strukturen sind, wie die Forschungen von Lloyd deMause (1979, 2002, s. auch Janus 2006) u.a. gezeigt haben, die Folge von Gewalt in der Erziehung und Unterdrückung der Sexualität. Die weite Verbreitung der Prügelstrafe in den arabischen Ländern hat jüngst ein Bericht von UNICEF (2014) wieder im Einzelnen belegt. Die Zusammenhänge sind heute auf einer empirischen Ebene durch die Forschung des Kriminologen Christian Pfeiffer (2015) eindeutig belegt.

Programme für eine verständige Elternschaft und das Verbot der Prügelstrafe können die Tendenz zu autoritärem Verhalten und die Gewaltneigung nachhaltig vermindern (Pfeiffer 2015). Die Unterdrückung der Frauen und die Gewalt in der Erziehung verhindern die Entwicklung einer selbstreflexiven Identität, die Voraussetzung für demokratische Strukturen ist. Dies wiederum ist ein Hintergrund für einen uneinfühlsamen und außengesteuerten Umgang mit den Kindern, was wiederum ein Hintergrund für das apokalyptische Denken in den Kategorien von „absolut gut“ und „absolut böse“ ist. Die moralische Entwicklung wird auf der Stufe des Folgsamkeitsgewissens eingefroren (Kohlberg 1996).
Verschlimmert wurde die Situation in den arabischen Ländern durch einseitige, rein an den eigenen Macht- und Wirtschaftsinteressen orientierte Eingriffe von russischer und amerikanischer Seite, die konstruktive Entwicklungen in einzelnen Ländern blockierten. Besonders krasse Beispiele sind der Sturz Mossadeghs im Iran durch die USA, die Unterstützung Mubaraks in Ägypten durch die USA und Assads durch die Russen und natürlich die destruktiven Kriege der USA in Afghanistan und Irak, die vor allem die Funktion der „Bewältigung“ innerer Spannungen in der amerikanischen Gesellschaft zu dienen hatten (deMause 2005).

Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Analyse der gesellschaftlichen Strukturen?

Abgesehen von politischen Sofortmaßnahmen in Form von humanitärer Hilfe und dem Versuch von Verhandlungen, wie sie ja auch heute zum Teil erfolgen, kommt es entscheidend auf eine langfristige Planung an, die die konstruktiven Entwicklungen in den arabischen Länder fördern könnten (Agostino 2015). An erster Stelle ist hier eine Unterstützung der Verbesserung der Erziehung mit dem Ziel zu nennen, eine persönliche Reife und Verantwortlichkeit zu erreichen. Hier wäre es wichtig, die Gefahr der Entwicklungsblockierung durch religiöse Indoktrinierung zu reflektieren. Wesentlich sind auch eine Emanzipation der Frauen und ein striktes Verbot der genitalen Verstümmelungen.

Es gibt also rationale und nachhaltige Entwicklungsstrategien, die bewusst gemacht werden müssen, um aus den kurzatmigen Adhoc-Reaktionen herauszukommen. Es geht vielmehr um Geduld und um einen langen Atem in der Begleitung der konstruktiven Entwicklungen in den arabischen Ländern bei deren Weg aus noch latent mittelalterlichen Strukturen in eine Moderne ihrer Prägung. Die militärischen Aspekte, die heute die ganzen Ressourcen verschlingen, sollten dem gegenüber im Hintergrund stehen.

Über die Konfliktanalyse auf beschreibender Ebene hinaus gibt es eine Konfliktanalyse aus dem psychohistorischen Verständnis des historischen Prozesses, woraus sich weitere Perspektiven und Anregungen ergeben. Dies soll im folgenden zweiten Teil dargestellt werden.

Konfliktanalyse unter Bezug auf die geschichtliche Evolution der Identitätsstrukturen

Um das Geschehen in Syrien zu verstehen, ist es notwendig, die emotionale Funktion von staatlich organisierte Gesellschaften zu reflektieren, wie sie sich in Folge der neolithischen Revolution mit der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht als Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens jenseits der Stammeskulturen entwickelten. Der Philosoph Peter Sloterdijk (2008, S. 43) hat Gesellschaften als „exouterine Immunkonstrukte“ gekennzeichnet, die die enorme Stressempfindlichkeit des Menschen ausgleichen sollen (Janus 2001, 2006a, 2006b).

Deren Ursache ist die sogenannte „physiologische Frühgeburtlichkeit“, also die Tatsache, dass wir neun bis zwölf Monate zu früh geboren werden (Portmann 1969), um bei dem durch den aufrechten Gang eingeengten Geburtskanal und dem durch das Hirnwachstum größeren Kopfumfang eine Geburt zu ermöglichen. Dies hat die Folge, dass Menschen so hilflos und abhängig geboren werden, dass sie entscheidend mehr auf eine emotionale Koregulation durch die Eltern und die Familie und später durch die Gesellschaft angewiesen sind. Die besondere Intensität dieser Koregulation beim Menschen hängt damit zusammen, dass sie, anders als bei anderen Primaten, die vergleichsweise reifer zur Welt kommen, den elementaren Mangel der Frühgeburtlichkeit ausgleichen muss. Darum hat die emotionale Koregulation beim Menschen die zusätzliche Funktion, gewissermaßen die Illusion einer fötalen Sicherheit in der realen Welt herzustellen. Bei den anderen Primaten geht es „nur“ um die Sicherheit in der realen Welt. Das ist der Hintergrund für die Gläubigkeit und die magische Intensität in menschlichen Beziehungen, insbesondere auch des Einzelnen zu seiner Gruppe, der er auch diese Gläubigkeit entgegenbringt (Janus 2015).

Weiter bedeutet dies: der Mensch stabilisiert sich dadurch in seiner Hilflosigkeit, dass er seine fötale Erfahrung auf die reale Welt projiziert und diese Projektion wiederum als Handlungs- und Motivationshintergrund hat. Er nimmt die Welt emotional als einen für ihn von einem höheren Wesen gemachten und für ihn bereitgestellten Kosmos wahr, also als einen Mutterleib, wie es auch in einigen Mythen reflektiert wird, die erzählen, dass die Welt aus dem Körper der Urmutter entstanden ist. Das erklärt die magischen Handlungen und Verrichtungen in den menschlichen Kulturen (2013b).

Auf der Ebene der Stammeskulturen geht es um einen quasi konkretistschen Umgang mit projizierten fötalen Objekten und Erfahrungen, wenn etwa im magischen Lebensbaum die plazentare Erfahrung gesucht wird und in den Riten emotional vergegenwärtigt wird. In gleicher Weise geht es bei den magischen Beschwörungen des Kraftzuflusses durch das Mana um eine Herstellung von emotionaler Sicherheit in der Welt durch die rituelle Vergegenwärtigung der nährenden Nabelschnurerfahrung (Dowling, Leineweber 2000, Janus 2013c).

Auf die Stammeskulturen folgen die frühen Hochkulturen, die nach der neolithischen Revolution entstehen und mit ihrem Überfluss an Nahrung gewissermaßen die kühnsten fötalen Träume erfüllen und eine ganz neue Handlungsfähigkeit ermöglichen und erfordern. In den frühen Stadtstaaten verwandeln sie die jeweilige Lebenswelt in eine uterine Sicherheitszone, die von einem höheren Wesen beschützt wird. Der König in einem uterussymbolischen Palast ist dessen irdischer Stellvertreter und repräsentiert das Gefühl fötaler Allmacht, die das ganze Gebilde emotional zusammenhält. Diese psychosoziale Konstruktion ist der Hintergrund menschlicher Gesellschaften (Crisan 2015), an deren Anfang wahrscheinlich auch ganz unmittelbar die Vertreterinnen der „großen Mutter“ gestanden haben (Bachofen 1853, Meier-Seethaler 1993, Schacht 2012), die dann von den Königen abgelöst wurden, als infolge der Bevölkerungsvermehrung die frühen Stadtstaaten in kriegerische Auseinandersetzungen gerieten und damit die Männer für das Überleben der jeweiligen Gruppen wichtiger wurden.

Die Geschichte der Menschheit lässt sich von diesem Ansatz her als eine kontinuierliche Bemühung verstehen, die fötal-urmütterliche Fantasie auch Realität werden zu lassen, wenn man so will, den Himmel auf die Erde zu holen oder das Reich Gottes (oder der Göttin) auf Erden zu errichten, und zwar vermittelst einer Kette von immer neuen technischen und sozialen Erfindungen, die die Welt immer mehr zu einem urmütterlichen Lebensraum umgestalten sollen (Janus 2009). In dieser Weise sind wir heutzutage in einer äußerst komplexen Weise umeinander (mütterlich) besorgt: umfassende Kommunikation, Ernährung, Transport, Wärmung, Unterhaltung und usw. sind Selbstverständlichkeiten unserer kulturellen Welt, an der alle mitarbeiten. Die frühere Ausrichtung auf Projektion vorgeburtlich-urmütterlicher Erfahrung auf die Himmelswelt ist ersetzt durch eine Ausrichtung auf die irdische Welt, in der gewissermaßen durch die umfassende Befriedigung aller nur denkbaren Wünsche eine Vergegenwärtigung der vorgeburtlich-urmütterlichen Sicherheit gesucht wird. Diese Zusammenhänge sind bisher nur ansatzweise erfasst und durchdacht, aber doch wichtig zum Verständnis psychohistorischer Zusammenhänge (Janus 2015).

Es hat nun geschichtlich verschiedene Stufen in dieser Entwicklung gegeben, wobei in unserem Zusammenhang jene mittelalterlichen Gesellschaften bedeutsam sind, wie sie im östlichen und südlichen Mittelmeerraum in den islamischen theokratischen Kalifaten realisiert wurden, weil deren Strukturen noch heute das Leben in den arabischen Gesellschaften mitbestimmen.

Die Struktur der mittelalterlichen Gesellschaften

Diese Gesellschaften vereinigten verschiedene Elemente aus den zurückliegenden historischen kulturellen Errungenschaften: einerseits die Strukturen der frühen theokratischen Stadtstaaten mit ihren himmlischen Schutzwesen und deren irdischen Stellvertretern, konkret der Kalif als Stellvertreter Mohammeds, des Gesandten Gottes, andererseits Strukturen der antiken Großreiche mit ihren komplexen Organisationsstrukturen. Die Magie der himmlischen Schutzmächte und deren irdischer Repräsentanten war ein emotionaler Ausgleich für die technisch, wirtschaftlich und sozial keineswegs himmlischen Bedingungen in diesen Gesellschaften. Das Problem in dieser sozialen Konstruktion war eine Konfusion zwischen innen und außen: die eigene zentrale handlungsleitende Instanz des Einzelnen war in die himmlischen Schutzmächte und ihre Stellvertreter projiziert, ein Signum der mittelalterlichen Identitätsstruktur. Deren Wollen war auch das eigene Wollen. Doch war das Handeln der Stellvertreter nicht durch reale Verantwortlichkeiten bestimmt, sondern wesentlich durch ihre fötalen Allmachtswünsche, wie sie sich im Wunsch nach einer Weltherrschaft äußerten. Dieser war in säkularer Form auch noch für Napoleon und Hitler handlungsleitend.

Der Prozess der Aufklärung mit seiner zunehmenden Durchsetzung von Reflexion in Bezug auf die Umwelt durchbrach diese Konfusion, und zwar in kontinuierlicher Wechselwirkung mit den technischen und sozialen Erfindungen der Neuzeit und ebenso mit einem verantwortlicheren Umgang mit den Kindern oder auch der Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehungen (deMause 1979, 2000, Shorter 1986). Alle diese Entwicklungen trugen zu einem realistischen Bezug zur Umwelt und zu einer größeren Verantwortung in den sozialen Beziehungen bei, was die dramatische Verbesserung in den Feldern der Wissenschaft, der Technik, der Wirtschaft, der sozialen Organisation, der Bildung und der menschlichen Beziehungen ermöglichte. Dies spiegelte sich im allgemeinen Fortschritt in vielen Bereichen, aber ebenso in der immer differenzierteren Durchleuchtung seelischer Zusammenhänge in der Literatur, der Philosophie und der Kunst allgemein.

Die angedeuteten Prozesse vollzogen sich vor allem in Europa und den USA, im Bereich des Osmanischen Reiches hingegen nur mit einer großen Verzögerung, in der Türkei entschiedener, aber in den anderen Bereichen des ehemaligen Osmanischen Reiches mit sehr großer Verzögerung. Die Folge war, dass diese Länder in einer unvermittelten Weise von den technischen, wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften des Westens beeinflusst und überrollt worden, ohne dies verarbeiten zu können, weil sie wesentlich noch in einer mittelalterlichen Identitätsstruktur verharrten, die dadurch in unregulierter Weise destabilisiert wurde. Ein nicht unwesentlicher Aspekt dabei war, dass aufgrund der durch westliche Einflüsse verbesserten Hygiene und Medizin sich die Zahl der Menschen in diesen Gesellschaften verdreifachte bis vervierfachte. Dadurch waren die sozialen Strukturen in einer systematischen Weise überfordert und immer mehr Menschen, insbesondere junge Männer, hatten keinerlei Chance auf eine sinnvolle Lebensverwirklichung (Heinsohn 2003, 2004).

Ein anderer Aspekt ist der, dass die mittelalterliche Identitätsstruktur die Potenziale der einzelnen Mitglieder dieser Gesellschaften blockierte, in grober Weise die der Frauen und durch die Allmacht der Könige oder Diktatoren auch die der Männer. Dazu kam noch, dass die fötale Identitätsstruktur der Könige und Diktatoren und theokratischer Würdenträger mit ihrem elementarem Allmachtsanspruch dazu führten, dass geringfügige Infragestellungen zu gewalttätigen, letztlich geburtstraumatisch bedingten, Reaktionen führten. Dies erklärt die gnadenlose Grausamkeit bei auch nur geringster Kritik etwa in Saudi-Arabien, aber auch die ungesteuerte Gewaltreaktion des Assadregimes.

Die Psychodynamik der Geburt als Hintergrund von Gewaltinszenierungen habe ich an anderer Stelle erläutert (Janus 2006c, 1915, siehe auch Grof 1983, Wasdell 1993, deMause 1996). Letztlich ist das Geschehen in Syrien als ein kollektiver Wandlungs- und Transformationsprozess zu verstehen, in dem es um eine Identitätstransformation von einer noch mittelalterlich-sakral geprägten Identitätsstruktur zu einer humanistischen Identitätsstruktur der Moderne geht. Deshalb ist es notwendig, auch die Dynamik von Wandlungs- und Transformationsprozessen andeutungsweise noch zu umreißen.

Psychodynamik von Wandlungs- und Transformationsprozessen

Solche Transformationsprozesse sind im Rahmen der Psychoanalyse und Psychotherapie vielfältig untersucht worden, insbesondere von Jung und Rank: wenn ein Patient an die Grenze seiner durch frühkindliche Belastungen eingeschränkten Möglichkeiten gekommen ist, ist es für einen Neuanfang nötig, dass er sich in einem Regressionsprozess in eine urmütterliche Befindlichkeit („Nachtmeerfahrt“ nach Jung 1985, S. 278) zurückbegibt, einen Zustand vor allen Festlegungen durch ein bestimmtes familiäres Milieu, um dadurch in einem förderlichen therapeutischen Raum Kräfte zu gewinnen und sich quasi neu erfinden oder neu schöpfen zu können (Rank 1924, 1926).

In einzelnen Fällen bei Patienten, denen diese archaische Erlebensschicht noch nahe und zugänglich ist, kann dies konkretistisch als Wunsch zur Rückkehr in den Körper des Therapeuten erlebt werden, um aus diesem neu und vollständiger geboren zu werden (Raffai 2015). Um einen solchen Neuwerdungsprozess geht es auf einer gesellschaftlichen Ebene in Syrien: die alte mittelalterliche Struktur, sich dem Willen eines höheren Wesens zu überlassen und dadurch geschützt zu sein, ist in den komplexer gewordenen Bedingungen der Moderne mit den größeren Ansprüchen an Selbstverantwortlichkeit und Flexibilität an ihre Grenzen gekommen. Da für eine neue Identitätsstruktur eigener Prägung aber kein Modell besteht, kommt es zu “Wachstumspanik“ (deMause 2005), die ihre Entlastung in Kriegsinszenierungen sucht.

Aus dieser Situation kam es zu der regressiven Phantasie gewissermaßen im „Bauch“ eines muttersymbolischen Europa, bei „Mutter Merkel“, eine Neuwerdung zu realisieren. Es sind dies zwar unbewusste Prozesse, aus denen aber die enormen Kräfte für so ein Individuationsabenteuer kommen.

Weil solche Prozesse vielleicht sehr fremdartig anmuten mögen, ist es sinnvoll daran zu erinnern, dass Europa ähnlich destruktive Transformationsprozesse im Sinne einer ziellosen Wachstumspanik beim Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit zu durchlaufen hatte, paradigmatisch im gesamteuropäischen Inferno des dreißigjährigen Krieges, dem zwei Drittel der deutschen Bevölkerung zum Opfer fielen. Die Auflösung mittelalterlicher Identitätsstrukturen gab in einem mehrere Generationen dauernden Prozess den Weg frei für die Entwicklung neuer selbstverantwortlicher Identitätsstrukturen, wie sie dann in der Aufklärung formuliert werden konnten und in den zunehmend demokratischeren Strukturen allmählich etabliert werden konnten. Die beiden Weltkriege verstehe ich als weitere transformative Krisen im Zusammenhang mit der Wachstumspanik der mittel- und osteuropäischen noch mittelalterlich-monarchisch geprägten Herrschaftsstrukturen gegenüber der Moderne. Trotz der dadurch möglichen Etablierung stabiler demokratischer Staatsformen auch in Mitteleuropa sind auch unsere Gesellschaften latent noch geprägt von alten patriarchalischen Autoritätsstrukturen, die in Resonanz treten können zu analogen Strukturen, wie sie in der syrischen Krise zum Ausdruck kommen, sodass es dann nur noch um „Auge um Auge und Zahn um Zahn“ geht und in einer militärischen Lösung das Heil gesucht wird. Das gilt im Moment besonders für Frankreich, England und die USA.

Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Analyse unter Bezug auf die Evolution der Identitätsstrukturen?

Die wesentliche Konsequenz besteht darin, die Dynamik des geschichtlichen Prozesses wahrzunehmen, in dem wir alle stehen und der nicht nur die Veränderungen in der äußeren Welt betrifft, sondern in gleicher Weise die damit in Wechselwirkung stehenden inneren Änderungs- und Entwicklungsprozesse in unserer Mentalität bzw. unserer Identitätsstruktur (Dinzelbacher 1993, Janus 2009, 2013a, 2013b, 2015, Pinker 2011). Erst wenn wir diese Dynamik und ihre Auswirkungen wahrnehmen, können wir sinnvoll handeln, indem wir in verantwortlicher Weise auf das Geschehen reagieren und es begleitend mitgestalten. Ein sinnvoller Schritt dafür wäre die Einrichtung psychohistorisch und interdisziplinär kompetenter Think-Tanks, die die politisch Handelnden beraten.

Zurzeit besteht die Gefahr, dass bei einer Krisenbelastung wie etwa terroristischen Anschlägen, autoritätsorientierte Teile der Bevölkerung in der Meinungsbildung dominant werden und das politische Handeln im Sinne einer unreflektierten Gegenreaktion mitbestimmen, wie dies in den Kriegen der USA gegen Afghanistan und den Irak erfolgte. Beim ersten Irakkrieg von George Bush stand dieser unter dem Einfluss eines evangelikalen Fundamentalisten. In gleicher Weise stand der Sohn bei seinen Entscheidungen unter dem Einfluss ähnlich orientierter Berater, die auf der Basis projizierter Bedrohungen bzw. einer Konfusion von innen und außen entschieden (Galler 2002).
Es kommt in der Stresssituation der Bedrohung gewissermaßen zu einer Mentalitätsregression auf eine vormoderne Identitätsstruktur, auf deren Hintergrund das eigene „Böse“ im anderen bekämpft wird. Lloyd deMause hat diese Zusammenhänge in seinem Buch „Das emotionale Leben der Nationen“ (2005) ausführlich beschrieben und in seiner Zeitschrift „Journal of Psychohistory“ begleitend erläutert. Die destruktiven Erfahrungen mit einer solchen projektiven Politikgestaltung, die auch ein Hintergrund für die jetzige Flüchtlingskrise sind, sollten jetzt eine Offenheit für diese psychohistorischen Überlegungen schaffen, insbesondere auch für eine Auseinandersetzung mit latent mittelalterlichen Strukturen in den westlichen Gesellschaften. Dies würde den inneren Abstand für ein sinnvolles Handeln ermöglichen. Ich will es bei diesen allgemeinen Feststellungen bewenden lassen, die jedoch eine andere und der Problematik angemessenere Perspektive und Handlungsweise ermöglichen könnten.

Literatur

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Adresse:
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Tel. 06221 801650, E-Mail: janus.ludwig@gmail.com.

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