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Tilmann Moser:
MILLER, Das Drama der verstörten Mutter

Der Sohn diagnostiziert Alice Miller

Gleich zu Beginn der durchaus noblen Abrechnung des Psychotherapeuten und Sohnes Martin Miller mit seiner Mutter einige Jahre nach ihrem Tod, steht, datiert aus den langen Jahren ihres Zerwürfnisses, ein wuchtiger Brief der Mutter an ihn: Er ist getränkt von Bitterkeit und Anklage gegen ihn, viel stärker als von Abbitte, zu der sie erst viel später fähig wird. Aber sie beklagt ihre eigene Beschädigung durch i h r e Mutter und spricht damit eines ihrer zentralen Themen an: „Parentifizierung“, das heißt den Missbrauch der Kinder für deren Sorge um eigenes elterliche Elend: „Warum brauchte ich 60 Jahre, um zu sehen, wie grausam, zerstörerisch, ausbeuterisch, durch und durch verlogen und lieblos meine Mutter war? Dass sie die Liebe und das Leben in mir zerstörte … Ich musste auch sehr früh lernen, zu helfen und verstehen zu wollen, wo nur Abscheu die einige adäquate Reaktion gewesen wäre … „

Während es ihr in ihrem Weltbestseller „Das Drama des begabten Kindes“ noch um einfühlendes Verstehen des kindlichen Gefühls- und Identitäsverlustes unter dem Druck elterlicher Maximen ging, verschärft sich später der Ton gegen die Eltern durch eine strikte Mahnung an die Patienten zur Anklage, zum Ausdrücken des Hasses gegen diese und ihr Verbot des Fühlens. Sie selbst fühlt sich um ihre Gefühle betrogen, gezwungen sie zu verheimlichen oder zu verdrängen oder nicht mehr wahrzunehmen.

Und diese Anklage und Verachtung schleudert die Analytikerin später der Psychoanalyse entgegen, in deren Fortbildungs- und Lehrinstitution sie sich zunächst lange heimatlich geborgen fühlte: sie indoktriniere und entmündige Menschen und predige ein feiges Versöhnlertum mit den Eltern, statt auf der Wahrheit des Hasses zu bestehen. Sie gilt ihr unbarmherzig als lebensfeindliche Sekte, die natürlich ebenso unerbittlich zurückschlug mit der auf Vernichtung angelegten Anklage der Häresie.

Alice Miller überlebte als Jüdin in Warschau versteckt und mit falscher Identität den Holocaust, aber sie versenkt ihr Erleben in der Gruft totalen Schweigens und dem Versuch, diese entsetzliche Phase zu entwirklichen. Und so lieb sie auch ihrem Sohn als unwirklich und therapeutisch unerlöst, aber unter dem für ihn zerstörerischen Zwang, das Unverarbeitete, die Kälte, die Grausamkeit und die Identitätsverwirrung an ihn weiterzugeben. Er wirft ihr sogar Missbrauch vor, weil sie ihn nicht vor dem Sadismus des Vaters geschützt, mit dem sie in fast lebenslänglicher bitterer Kampfehe lebte. Sie lebte so „gespalten“, mit einer kämpferischen und auch rachsüchigen Seite, und dem eisern verborgenen frühen Elend und der notwendigen Verstellung, um die SS-Razzien zu überleben. Für ihre jahrelangen Todesängst gab es Grund: sie fühlte sich einem antisemitischen Polen ausgeliefert, der sie um Geld und Schmuck erpresste durch die Drohung des Verrats.

All dies kehrt beschwiegen und unvorbereitet wieder, als sie im Alter paranoid wurde und sich für ihre letzten zwanzig Lebensjahre in Frankreich menschenscheu geworden verbarg und nur noch über das Internet mit der bösen Welt der Kritiker und dem Heer der verständnissuchenden Patienten aus aller Welt verkehrte, denen sie mit Ferndiagnosen zu helfen versuchte. Sie war erfüllt von ihrer Mission, eine neue und heilsamere Form der Psychotherapie zu kreieren, wurde aufbrausend und böse, wenn sie sich kritisiert fühlte, zürnte dem Sohn, als er ihr, als sie an Krebs erkrankt war, keine Sterbehilfe leisten wollte, und ließ sich in Bitterkeit verbrennen und die Asche in ihren geliebten Badesee verstreuen. „Auch ohne meine Hilfe organisierte sie sich ihren Tod.“

Der Sohn, selbst Therapeut, versuchte, noch immer bewundernd, nach ihren strengen Maximen zu therapieren, würdigt ihr theoretisches Verdienst durchaus, distanziert sich aber auch mit der These, dass vieles an ihren Maximen nicht für für seine therapeutische Praxis tauge, weil viel zu doktrinär und auch herrschsüchtig gegenüber den Patienten. Bei ihrem erbitterten Kampf gegen die Psychoanalyse liegt die Deutung nahe, sie habe ihr Leid und ihren Hass auf eine bigotte jüdische Regelverfallenheit und Lebensfeindlichkeit in ihrer Herkunftsfamilie direkt übertragen auf die Psychoanalyse als Institution und Lehrgebäude. Sie gab relativ frühe ihre Praxis auf, zur Rettung wurde Malen und Schreiben, und dies bis zuletzt in teils erklärenden, teils wütenden Botschaften, die auf tausenden von Bildschirmen aufleuchteten, teils direkt, teils aus dem Fundus ihrer stets erneuerten homepage. Sie polarisiert zunehmend alle Menschen, mit denen sie zu tun hatte, in Anhänger, Verfechter und Bewunderer auf der einen Seite, auf der anderen in Verächter und wütende Gegner, und sie soll es sogar genossen haben.

Was Martin Miller geschaffen hat, ist eine mutige literarische und therapeutische Großtat. Sein Buch verdient es auch, als Lehrstück gelesen zu werden für eine der unendlichen Varianten von Verstrickung zwischen zwei Menschen, die sich näher nicht sein könnten.

Martin Miller, „Das wahre ´Drama des verletzten Kindes`. Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängt Kriegstraumata in der Familie wirken“.
Kreuz-Verlag, Freiburg, kart. 175 Seiten. Rezension für Psychologie Heute

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